Nachbetrachtung der Corona-Demo in Berlin am 29.08.2020

Dass wir Menschen Gedanken gerne in Schubladen einordnen, liegt in der Natur der Sache, auch wenn es um Berichterstattung geht. Möchte man auf die Corona-Demo vom 29. August 2020 in Berlin zurückblicken, dann erscheint es dringend erforderlich, verankerte Denkmuster zu durchbrechen. Es gibt einfach Ereignisse und Zusammensetzungen, die sich eben nicht auf einen Satz verkürzen lassen können.

Die Journalisten, welche meinten, schon im Vorfeld zu wissen, dass die Corona-Proteste von Neonazis, Reichsbürgern etc. gekapert oder gar gelenkt werden, suchten und fanden auch Bilder, die ihre vermeintlich prophetische Vorhersage bestätigen. Die ganze Demonstration in diese Schublade zu stecken, schafft allerdings ein Zerrbild, welches mit der Realität wenig gemein hat. Wir waren am Samstag ebenfalls unterwegs. Wir wollten uns ein eigenes, differenziertes Bild machen, haben mit vielen Demonstrationsteilnehmern gesprochen und die Lage vor Ort beobachtet. Unsere Eindrücke geben wir Ihnen gerne in dieser Nachbetrachtung weiter.

29.08.2020 – Der Tag der Corona-Demo in Berlin

Samstagmorgen, 9 Uhr in der Früh. Die Sonne scheint, ein leichter Wind weht. Während andere noch ausschlafen oder grade bei ihrem ersten Kaffee sitzen, sind wir in der Hauptstadt Berlin auf den Beinen. Mit schnellen Schritten laufen wir in Richtung Brandenburger Tor.

Als am 1.8.2020 die erste größere Demonstration gegen die Corona-Einschränkungen stattfand, war von „Covidioten“ und Demokratieverächtern zu lesen. Während die Veranstalter selbst von einer friedlichen und erfolgreichen Demonstration sprachen, waren große Teile der politischen Landschaft und zahlreiche Medienvertreter geradezu empört und schwangen die Nazi- und Leugnerkeule. Ein Sturm der Entrüstung fegte über die Demoteilnehmer hinweg.

Am gestrigen Samstag wollten wir uns ein eigenes Bild machen. Wer sind die Menschen, die dort demonstrieren? Was treibt sie auf die Straße? Was sind ihre Sorgen?

Warum versammeln sich so viele Menschen zur Corona-Demo?

Als im Frühjahr dieses Jahres der Lockdown verkündet wurde, gab es noch viel Verständnis für die Maßnahmen der Bundesregierung. Es gab keinen großen Protest gegen die Einschränkungen. Keiner wusste genau, wie sich das Virus ausbreitet und welche Folgen es hat. Keiner wusste, ob und wie hart uns Corona treffen und wie viele Menschenleben es fordern würde. Politik und Wissenschaft wirkten gleichermaßen überfordert. In unzähligen Talkshows waren immer wieder andere Meinung zu hören, vom harmlosen Grippevirus bis zur ausrottenden Seuche war alles zu hören. Das Spektrum der Maßnahmen reichte ebenso vom völligen Herunterfahren der Wirtschaft bis zum „Einfach so weiter wie bisher“. Die Verunsicherung war greifbar.

In der Zwischenzeit ergibt sich ein anderes Bild. Die Fallzahlen sind sehr gering, wenige Todesopfer, keine übermäßigen Infektionszahlen. Jeder Tote ist einer zu viel. Aber es existieren nun mal Krankheit und Tod auf dieser Welt. Die Maßnahmen der Regierung, welche zum Schutz der Menschen getroffen werden, müssen immer im Verhältnis zum Grundgesetz und zur Freiheit des einzelnen Menschen stehen. Nach unserem Empfinden ist dies schon lange nicht mehr der Fall. Wir im Team haben uns im Vorfeld der Demonstration mit vielen Bekannten unterhalten, welche auf komplett unterschiedlichen Wegen vom Virus betroffen sind. Da sind zum einen die Mittelständler, welche am Rande der Pleite stehen. Zum anderen Krankenpfleger, welche alte Menschen weinen sehen, weil sie keinen Besuch mehr bekommen dürfen. Dazu hörten wir von Müttern, die Angst davor haben, ihre Kinder abgeben zu müssen, wenn sie sich nicht an die Vorschriften des Gesundheitsamtes halten. Würden wir diese Menschen auch in Berlin treffen? Oder ist es die „Nazi-Demo“, von welcher die Medien schreiben?

Proteste am Brandenburger Tor

Am Brandenburger Tor angekommen, überrascht die jetzt schon anwesende Masse an Menschen. Einige tausend Menschen sind da und repräsentieren die unterschiedlichsten Kultur- und Bevölkerungskreise. Israelflaggen wehen neben Peacefahnen, ein „Make America Great Again“-Plakat wird nur unweit von einer größeren Gruppe „Querdenker“ hochgehalten. Vor dem Brandenburger Tor steht ein großer Laster, auf welchem Musik gespielt wird. Auf der anderen Seite sammelt sich der Protestzug langsam, aber stetig wachsend.

Schnell kommen wir mit den ersten Teilnehmern ins Gespräch. Ein junger DJ, schick gekleidet, erzählt von seinem wirtschaftlichen Desaster. Er habe kaum noch Aufträge, könne seine Miete bald nicht mehr bezahlen. Wir fragen nach seinen Forderungen an die Bundesregierung und was sich in seiner Vorstellung bald verändern solle. Fast ernüchtert meint der junge Schwabe: „Ich möchte einfach nur, dass irgendwas wieder aufmachen kann. Egal wie.“ Die Verzweiflung in seiner Stimme ist nicht zu überhören.

Am anderen Ende des Pariser Platzes, auf Höhe des Hotel Adlon, ist eine größere Menschengruppe mit einheitlichen Shirts zu sehen. Groß prangert der Spruch „Freiheit statt Verbote“ auf ihrer Kleidung. Als wir die Gründe ihres Erscheinens erfragen, meint ein Stellvertreter der Gruppe:

„Wir sind keine Reichsbürger, Verschwörungstheoretiker oder Corona-Leugner. Wir sind einfach Bürger, die von diesen ganzen Maßnahmen genug haben.“ Das Virus existiert, das sei ihnen allen klar. Aber diese ganze Kontrolle der Regierung, dass sei ihnen einfach zu viel.

Auseinandersetzungen mit der Polizei

Kurz nach diesem Gespräch gibt es die erste kleine Kollision am Brandenburger Tor. Die Polizisten stellen sich ruppig einigen Teilnehmern in den Weg und sperren das Tor ab. Alle Demonstrierenden müssen nun über die Nebenstraßen zum Anfang des Zuges kommen. Weshalb die Maßnahme genau angewendet wurde, ist nicht wirklich ersichtlich. Es kommt zu einigen Wortgefechten zwischen Demoteilnehmern und Polizisten, alles bleibt aber völlig im Rahmen. Anschließend fordert die Polizei die Teilnehmer auf, langsam den Platz zu räumen und sich Richtung Unter den Linden und Friedrichstraße zu begeben. Die Teilnehmer tun dies auch zu einem großen Teil sehr gesittet und ohne zu protestieren. Viele der Protestierenden bekommen nicht mit, dass es an der russischen Botschaft zu Ausschreitungen mit Festnahmen kommt. Wir auch nicht.

Nach einem längeren Marsch über die Friedrichstraße gönnen wir uns eine Verschnaufpause. Auf einer Seitengasse direkt am Bahnhof Friedrichstraße ist eine Gegendemonstration zu sehen. Die Berliner Antifa hat sich in kleiner Zahl formiert, vermummt, militant, aggressiv. Die Polizei hält die wenigen Gegendemonstranten aber zurück, es kommt zu keinen Angriffen von der linken Seite.

Wenig später kehren wir zum Brandenburger Tor zurück. Ein Großteil der Menschen bewegt sich in Richtung der Hauptbühne und der Siegessäule, auch AfD-Flaggen sind im friedlichen Protest zu erkennen. Auf der Straße zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule sind mehrere Leinwände aufgebaut, die Menschen finden sich auf ihren Plätzen davor ein. Viele, auch wir, gehen bis zur Siegessäule, welche den Hauptpunkt der Demonstration darstellt. Auf dem Weg dorthin sehen wir wieder die unterschiedlichsten Gruppen und Nationalitäten. Spanien, Amerika, Israel, Niederlande…. dies ist nur eine kleine Auswahl an verschiedensten Flaggen, welche wir am gestrigen Samstag erblicken. Des Weiteren gibt es an jeder Ecke Kulturprogramm. Teilweise wird auf der Straße meditiert, teilweise werden Tänze aufgeführt. Sogar ein Piano ist mitten auf der Straße aufgebaut und es wird musiziert. Naziprotest sieht irgendwie anders aus.

Kundgebung an der Siegessäule

In den umliegenden Parks sitzen ebenso zahlreiche Bürger, welche es sich auf Decken bequem gemacht haben. Und auch wir finden langsam unseren Platz direkt an der Siegessäule. Auf dem Boden deuten Markierungen auf die Mindestabstände hin, Ordner überprüfen immer wieder die Einhaltung dieser. Auch die Veranstalter weisen in Durchsagen immer wieder darauf hin, auf Abstände zu achten und die Polizei so nicht zur Auflösung zu zwingen. Als die ersten Redner auf die Bühne kommen, ist der Platz an der Siegessäule voll besetzt, die Nebenstraßen sind ebenso zahlreiche gefüllt. Trotz dieser Fülle an Menschen wird streng auf Abstände geachtet. Das Hauptprogramm auf der Bühne ist dann gespickt mit guten Rednern und Musik. Beeindruckend ist allen voran, neben Kennedy, ein Mitglied von Bündnis 90-Die Grünen. Auf der Bühne legt der junge Mann dar, dass die Parteivorstände seine Recherchen und Forschungen zur Pandemie komplett ignoriert hätten und er seit seiner Kritik an der Corona-Politik der Altparteien mit einer Ausgrenzung und Verächtlichmachung durch seine Parteigenossen zu kämpfen habe. Ob der mutige Herr am Montag noch Mitglied seiner Partei ist, bleibt offen.

Gegen 18 Uhr begeben wir uns auf den Heimweg. Lange haben wir gestanden, uns unterhalten und viele Menschen getroffen. Wir durften viele Menschen kennenlernen, es waren keine „Covidioten“, „Nazis“ oder „Verschwörungstheoretiker“ sind.

Die Demonstranten vereinte die Sorge, dass unsere Grundrechte noch weiter eingeschränkt werden und die wirtschaftliche Existenz zahlreicher Menschen unnötigerweise vernichtet wird. Leider prägen diese Menschen nicht das Bild der medialen Berichterstattung, sondern einzelne Chaoten, die ein legitimes politisches Anliegen für fünf Minuten billigen Ruhm diskreditieren.

Unsere Fragen an weite Teile der Medien bleiben nichtsdestotrotz:

Warum spricht eigentlich niemand mit diesen Menschen, mit denen wir gesprochen haben? Warum wird krampfhaft das Bild einer Nazi- und Verschwörungstheoretiker-Demo gezeichnet? Nach unserem Eindruck waren 99 Prozent der Teilnehmer komplett friedlich, hielten sich an alle Regeln und kamen nicht vom politischen Rand. Etwas weniger Sensationslust würde unseren Medien sicher guttun.

Sturm auf den Reichstag – der Sturm im Wasserglas

Natürlich können und wollen wir auch den vermeintlichen „Sturm auf den Reichstag“ nicht ignorieren, schließlich sind es doch genau die Bilder, welche wohl letztlich auf vielen Titelseiten gelandet sind und noch landen werden. Soviel sei vorweggenommen: Zu dem Zeitpunkt, als Demonstranten, die augenscheinlich zu weiten Teilen zumindest Reichsbürgern oder möglicherweise Rechtsextremen zuzuordnen sind, an den Absperrungen vorbei zu den Treppenstufen des Reichstages rannten und dort schwarz-weiß-rote Fahnen schwenkten, waren wir nicht mehr vor Ort und der Liveticker bereits geschlossen.

Wir konnten aus der Ferne sehr wohl beobachten, dass sich am Platz vor dem Reichstag schon am Nachmittag Personen versammelten, die dem äußeren Eindruck nach, radikale Positionen vertraten. In sozialen Netzwerken konnte man lesen, dass auf dieser Kundgebung ein ehemaliges NPD-Mitglied auftrat.

Diese Versammlung war zu jedem Zeitpunkt eine Randerscheinung und wurde bis auf vereinzelte Demonstranten völlig ignoriert. Weder hatte diese nach unserem Eindruck vor Ort eine nennenswerte Reichweite, noch konnten die Redner abseits ihrer festen Anhängerschaft Einfluss auf das Demonstrationsgeschehen nehmen.

Dass nun Berufs-Rechtsextremismus-Experten, linke Journalisten und Politiker ausgerechnet das Bild einer kleinen Randgruppe, die über ein Gitter springt und zu den Stufen des Reichstages rennt, als die bestimmende Szene des 29. August 2020 inszenieren, entspricht möglicherweise deren politischer Agenda aber keinesfalls der Realität.

Grundsätzlich gilt: Jeder „Sturm“ auf den Reichstag ist zu verurteilen, jegliche Versuche eines gewaltsamen Eindringens sind zu unterbinden. Punkt.

Das gilt für Reichsbürger und Rechtsradikale, aber auch für Linksradikale, Greenpeace oder Fridays-for-Future-Kiddies, die noch vor wenigen Wochen tatsächlich widerrechtlich in den Reichstag während einer Plenardebatte eingedrungen waren und durch Geschrei und Plakate auf sich aufmerksam gemacht haben.

Äußerungen von Spitzenpolitikern der etablierten Parteien oder gar dem Bundespräsidenten haben wir damals nicht vernommen. Es ist dieses Messen mit zweierlei Maß, das immer mehr Bürgern sauer aufstößt und zu einer immer stärkeren Entfremdung eines großen Teils unserer Bevölkerung mit der etablierten Politik führt.

Abschließend lässt sich festhalten:

Die Demo am Samstag in Berlin war tatsächlich „bunt“ und „vielfältig“. Wir haben viele besorgte Bürger gesehen, viele Menschen, die sich für unsere Grundrechte im besten Sinne einsetzen. Wir haben Hippies gesehen, Grüne, Linke, Liberale, Konservative und viele mehr.

Und ja, wir haben auch Rechtsextremisten gesehen. Diese waren jedoch nur vereinzelt unterwegs und spielten keine nennenswerte Rolle.

Außerdem möchten wir zum Abschluss den Senator für Inneres in Berlin Andreas Geisel, der die Demo am Samstag widerrechtlich verbieten wollte, zitieren, der sich vor einiger Zeit zur linken „Unteilbar“-Demo wie folgt äußerte:

„Wenn ich als Demokrat gefordert bin, dann gehe ich auf die Straße. Und ich lasse mich nicht davon hindern, dass auch Extremisten Möglichkeit nutzen, dort ihre Meinung zu vertreten.“

Interessant, oder?

TM